Monday, January 3, 2022

what the alteronomy?

Was ist „Alteronomie“? Gleich vorweg: hier kommt erstmal keine Definition, aber irgendwann (vielleicht zuerst vor zehn Jahren) habe ich länger darüber nachgedacht, ob es irgendeinen gemeinsamen Nenner dessen gibt, was mich so umtreibt. Schon seit meiner Kindheit empfinde ich eine gewisse Faszination für verschiedenste Systeme. Wo der tiefere Grund für diese Faszination liegt, habe ich nie weiter erforscht, aber vielleicht liegt ein Eckstein in meiner mehrsprachigen Erziehung mit Deutsch und Schwedisch durch meine Mutter und der regelmäßigen Konfrontation mit der ungarischen Sprache durch meinen Vater begründet. Die Tatsache, dass man die gleichen Konzepte mit völlig unterschiedlichen Sprachsystemen beschreiben kann, ist ja auch irgendwo bemerkenswert. Als ich dann später unterschiedliche Schriftsysteme entdeckte und verstand, dass komplexe Zusammenhänge auch durch die richtige Anordnung von ein paar Strichen ausgedrückt werden können, während ich mich oft lieber mit Stift und Papier beschäftigte als mit Ballspielen, bin ich womöglich tiefer in diese Gedankenwelt eingetaucht. Bestimmt waren auch die unzähligen Gespräche in unserer Familie prägend, in denen es hauptsächlich um Themen und Ideen ging statt um Leute oder Ereignisse.

Jedenfalls erinnere ich mich, dass ich in der Krankenpflegeschule während langer Sitzungen vor einem internetlosen Computer bei Tee und Marihuana so richtig in Themen versank, von denen ich der Meinung war, dass sich damit kaum jemand anderer beschäftigt. Für mich erschien das so freakig und im Großen und Ganzen so belanglos, dass ich mit niemandem darüber sprach – außer mit David, dem einzigen Freund, von dem ich dachte, er könnte etwas damit anfangen und mir irgendeine Form von Bestätigung geben, dass ich nicht nur vielleicht verrückt bin, oder so. Diese schlimmste Befürchtung habe ich jedenfalls nicht mehr (bzw. habe ich dieses Label für mich so verallgemeinert dass es ein Spektrum ist, auf dem sich ohnehin jeder finden wird), aber nach wie vor die Schwierigkeit mir vorzustellen, wie ich ein eventuell interessiertes Publikum ansprechen könnte.

Was waren das damals für Themen? Im Groben ging es dabei meist um alternative Systeme, die etwas besser machen sollten, als konventionelle Systeme. Einigen von ihnen habe ich auch eigenwillige Namen gegeben. Darunter waren: „Wiesenakkord“: eine Sprache, deren Lexeme so optimal ausgewählt und kodifiziert werden sollen, dass sie semantisch viel unmissverständlicher ist als bestehende Sprachen; „Windappetit“: eine Beschreibung des menschlichen Körpers und dessen mögliche Bewegungen, um jede Art von Sport, Tanz, Gebärden usw. kodifizieren zu können; „Werksattraktion“: eine Kommune, die aus ausgewählten Leuten besteht, die sämtliche neuen Systeme als Lebensprojekt erlernt und integriert und der restlichen Gesellschaft als Beispiel dienen soll, es ihr gleich zu tun. Daneben gab es auch Ideen zu einer neuen Musiknotation oder einer phonetischen Notation.

Ich gebe zu, nichts davon war sonderlich sofistiziert. Mir war bald klar, dass ich nichts von dem, was ich mir allein im stillen Kämmerlein überlegte, etwas sein kann, das nicht nur besser als bestehende Systeme ist, sondern auch von allen möglichen Alternativen eine besonders elegante. Aber genau das war mein Anspruch, dem ich mich aber als Individuum nie wirklich gewachsen gesehen habe.

In den folgenden Jahren habe ich immer wieder über konstruierte Sprachen gelesen und auf Wikipedia ein bisschen herumeditiert. Lojban, Ithkuil und Toki Pona haben mich fasziniert, ohne dass ich mich aber allzu tief damit befasst hätte. Auch hier habe ich das Prinzip eines alternativen Systems ansprechender gefunden als die konkrete Realisierung.

Das Thema „Co-Housing“ hat mich bis heute immer wieder begleitet, habe es auch mehr oder weniger gelebt, wohl auch aus der damaligen Idee der Kommune. Dadurch bin ich auf das Entscheidungsfindungsmodell der "Soziokratie" gestoßen, was mich seitdem nie ganz losgelassen hat.

Einen großen Einfluss auf mein Denken hat die „Pattern Language“ von Christopher Alexander ausgeübt. Das war damals wie ein kleines Erleuchtungserlebnis. Zum ersten Mal habe ich gesehen, wie ein scheinbar viel zu komplexes System mit einer Unzahl an Mitspielern mit unterschiedlichen Interessen mithilfe ein paar punktuell ausgewählter und ausformulierter Überlegungen strukturiert und verstehbar gemacht werden kann. Auch das appellieren an den Architekten in jedem von uns hat mich stark beeindruckt.

Eine extrem prägende Zeit waren die ca. drei Jahre bei der "Linkswende" als ich noch in die Schule ging. Da sollte ich einmal in einem eigenen Post darüber reflektieren. Auf jeden Fall zeigt mir diese Phase eine Überzeugung in mir, dass eine radikal andere Welt möglich ist -- eine Überzeugung die sich im Prinzip gehalten hat, nur dass ich denke, dass die Wege dorthin deutlich schwieriger (aber jedenfalls friedfertiger) zu gehen sind, als ich mir das damals in meiner jugendlichen Naivität gedacht habe. 

Meine erwachsene Naivität hält es mit David Deutsch, der meint: Probleme sind unausweichlich, aber Probleme sind immer lösbar, solange es nicht gegen Naturgesetze geht. So mache ich mir bis heute Gedanken, wie man das globale politische Chaos ein bisschen unter Kontrolle bringen könnte. Es gilt nur die entscheidenden Faktoren ausfindig zu machen und auszunutzen. Ein dickes "nur", fürwahr.

Viele Leute sagen mir nach, dass ich so ein umgänglicher, "sozialer" Mensch sei und bringen das mit dem Begriff "Empathie" in Verbindung. Ich würde entgegnen, dass ich mich nicht für sonderlich empathisch halte, aber ich wohl gut von schlecht unterscheiden kann und mich einfach die psychischen und sozialen Bedingungen, die zu einem guten oder schlechten Outcome führen, dermaßen interessieren, dass ich Empathie sozusagen zu "simulieren" gelernt habe.

So sieht's aus in meinem Hirn, lauter lose Enden. Oder doch nicht? Wie gesagt, ich denke es gibt da etwas herauszuholen. Eine Meta-Ebene sozusagen.

Wir alle leben mit Systemen, die uns so in Fleisch und Blut übergegangen sind, dass wir sie im besseren Fall für selbstverständlich annehmen, oder aber im schlimmeren Fall gegen jede Art von Kritik verteidigen. Es gibt natürlich unzählige Bewegungen, die sich explizit gegen bestimmte Systeme richten, aber die wenigsten stellen minutiös ausgearbeitete Alternativen parat. Es ist nunmal eine Sache, ein bestimmtes System zu kritisieren, aber eine völlig andere Sache, zu prognostizieren, wie viele Probleme ein neues System tatsächlich löst und wie viele neue vielleicht dazukommen. Dazu kommt noch das Problem des Übergangs von einem alten zu einem neuen System, was oft mit viel Energie, Schweiß, Blut und Tränen verbunden sein könnte, sodass viele nach vielen Enttäuschungen im Laufe ihres Lebens lernen zu resignieren oder auf einen Generationenwechsel zu warten.

Wir leben in Zeiten des ständigen Umbruchs und Innovationen fliegen uns mitunter wie Geschosse um die Ohren, da ist es auch irgendwie verständlich, dass die Anreize groß sind, das zu behalten und zu kultivieren, was schon mühsam angelernt wurde. Auch scheint die Not, etwas völlig Neues zu entwickeln, oft nicht allzu groß. Die alten Systeme haben uns immerhin bis hierhin gebracht und rechnergestützte Konversion lässt uns ohnehin alles in jedes beliebig andere System übersetzen.

Aber wenn man bedenkt, wie ein bestimmtes System, mit dem man selber seine Schwierigkeiten hat, es zu lernen, über Jahrzehnte, Jahrhunderte oder gar Jahrtausende bestehen bleibt, obwohl ein offensichtlich besseres, leichter zu lernendes bei der Hand wäre, sollte man doch meinen, da eine gewisse Absurdität erkennen zu können.

Ich denke, es braucht zumindest einen Raum, in dem solche Systeme reifen können und ernst genommen werden und nicht durch den erstbesten Einwand à la "das wird sich nie", "da könnt ja jeder kommen" oder "das war noch nie so" im Keim erstickt.

Wiese.


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